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Welt im Umbruch – Welt im Aufbruch?

Es sind schwierige und verstörende Zeiten. Eine Pandemie, die uns im Griff hat. Ein Putschversuch in ­Washington. Sterbende Wälder in ­Amazonien, S­ibirien oder im Harz. Repression in Hongkong, aber auch jubelnde Demonstrant*innen in Chile und ­Argentinien. Eine EU, die sich in der Krise zusammenreißt. Das autoritäre China, das mit Impfdiplomatie seine Einflusssphären auszuweiten versucht und zugleich verspricht, bis 2060 klimaneutral zu werden. Eine Ölindustrie im freien Fall und Billionen für ­wackelnde Finanzmärkte.

Die Widersprüche der Hyperglobalisierung

So viel Umbruch, so viel Ungleichzeitigkeit war selten. Fast alles scheint im Fluss. Wir erleben, wie die inneren Widersprüche einer neoliberalen Hyperglobalisierung (Dani Rodrik) aufbrechen, die nach dem Fall der Mauer in den vergangenen 30 Jahren das globale Wachstum angefeuert hat. Sie hat uns günstige Elektronik aus China und Billigfleisch dank Gensoja aus Brasilien beschert. Sie hat der deutschen Maschinenbau- und Autoindustrie Absatzmärkte sowie Arbeitsplätze gesichert, und Konzernen Klagerechte vor dubiosen Schiedsgerichten. Sie verursachte einen Boom an Treibhausgas-Emissionen und eine Vervielfachung von Finanzmarktspekulationen. Hunderte Millionen Chinesen wurden Teil der globalen Konsumierendenklasse und Ohios Stahlarbeiter deklassiert.

Soziale Grenzen überschritten

Wir «ernten» heute die sozialen, ökologischen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen einer in weiten Teilen deregulierten Welt. Das Finanzsystem ist globalisiert und umstrukturiert: Zunehmend stehen nicht mehr Banken, sondern Schattenbanken im Zentrum des Finanzsystems. Es hat sich zum zentralen Steuerungszentrum der Weltwirtschaft entwickelt. Doch Finanzmärkte, die auf Schatten­banken basieren, sind inhärent instabil. Sie erzeugen sich selbst verstärkende Blasen und zyklische ­Krisen. Zentralbanken sind zu unverzichtbaren ­Akteuren geworden: ihnen bleibt in der Krise gar nichts anderes übrig, als die systemischen Risiken abzufangen. Sie fluten dann die Märkte mit Billionen an neu geschöpftem Zentralbankgeld. Das war auch im Frühjahr 2020 der Fall, als die Coronakrise eine neue Finanzkrise auszulösen drohte. Nur billionenschwere Anleihekäufe der amerikanischen «Federal Reserve» konnten eine Kernschmelze des globalen Finanzsystems verhindern. Auch die Europäische Zentralbank musste erneut massiv intervenieren. Immer größere Summen an billigem Geld lassen die Vermögenswerte explodieren, von Aktien über Immobilien bis hin zu Ackerland. Vermögende profitieren, doch der Zugang zu Wohnraum und Land für diejenigen, die nichts besitzen, wird immer teurer. Während ökonomische Risiken systematisch auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, werden Ultrareiche vor einer angemessenen Besteuerung geschützt. Das ist von einigen politisch gewollt.

Diese Hyperglobalisierung hat zwar auch Menschen aus absoluter Armut ­geholt, sie hat aber die soziale Spaltung und politische Polarisierung der meisten Gesellschaften befördert.

Demokratien in der Social-Media-Echokammer

Parallel hat die Erosion der öffentlichen Infrastrukturen und öffentlich verantworteten sozialen Sicherung ein Gefühl der Unsicherheit verstärkt. Abstiegsgefährdete Mittelschichten radikalisieren sich, werden häufig zu Wutbürgern. Sie treffen auf eine Öffentlichkeit, die nicht mehr von Qualitätsmedien dominiert wird, sondern von werbegetriebenen, profitmaximierenden Social-Media-Algorithmen, die diese Wut in Echokammern systematisch verstärken. Dabei kommt es zu einer zerstörerischen Abwertung gesellschaftlicher und demokratischer Normen und öffentlicher Institutionen.

Konservative Eliten machen sich diese Mechanismen zunutze. Die amerikanische Autorin Anne Applebaum beschreibt in ihrem Buch «Twilight of Democracy» (deutsch: «Die Verlockung des Autoritären»), wie in den USA, Großbritannien und Polen konservative Eliten der autoritären Verlockung erlagen und für ihren Machtgewinn und Machterhalt Demokratie und gesellschaftliche Verantwortung verrieten.

Der ökologische Preis ist zu hoch

Der ökologische Preis der Hyperglobalisierung ist immens: Ökosysteme und Biodiversität sind vielerorts irreversibel zerstört, die Klimakatastrophe längst real, Menschen- und Umweltrechte werden den Interessen des Kapitals untergeordnet. Eine sozialökologische Rechtsordnung, die den Schutz von Mensch und Natur, das gute Leben für alle Erdenbürger ins Zentrum stellt, hat es bei allen positiven Ansätzen wie der Vielzahl internationaler Konventionen eben nie in aller Konsequenz gegeben.

«Wissenschaftlich belegt ist ein enger Zusammenhang zwischen der Zunahme schwerer Epidemien oder gar Pandemien und der Zerstörung der Umwelt, einschließlich des Niedergangs unzähliger Arten», schreibt der Biologe Josef Settele. Bernd Ulrich spricht in der ZEIT gar von einem «pandemischen Zeitalter» – die Krise als Normalzustand.

Die ökologischen und Gesundheitskrisen verschränken sich mit den ökonomischen, sozialen und politischen. Die politischen Versuche, sie zu bewältigen, sind vielfach hilflos, beim Klimawandel noch viel zu unentschieden, und sie verschärfen alle zusammen Ungleichheiten, was wiederum Demokratiekrisen à la Brexit und Trump befördert.

Durch die Digitalisierung werden diese Prozesse dramatisch beschleunigt. Die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit demokratischer Gesellschaften droht überfordert zu werden. Es scheint alles zu schnell, zu viel auf einmal, selbst da, wo im Lockdown erst mal der Stillstand angesagt ist.

Der Aufstieg Chinas

Diese Krisen der alten Demokratien des Westens krempeln die geopolitischen Machtverhältnisse um. Die Pax Americana scheint endgültig zu Ende, die ökonomische, technologische und zunehmend auch politische Macht verlagert sich nach China. Der Aufstieg Chinas zur Weltmacht hat sowohl mit der kontrollierten Öffnung des Landes für die Weltwirtschaft seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zu tun als auch mit dem relativen Machtverlust der USA, der spätestens mit der Finanzkrise 2008/09 immer offensichtlicher wurde. Den Doppelschlag der Wirtschafts- und ­Finanzkrisen von 2008 und 2020, der jeweils zu gravierenden Wachstumseinbußen in Europa und Nordamerika führt, steckt China durch eine enge Koordination von Geld- und Fiskalpolitik (noch) vergleichsweise problemlos weg.

Die erfolgreiche ökonomische Aufholjagd Chinas hat eine neue globale hegemoniale Konkurrenz hervorgebracht. Doch die ökologischen und sozialen Kosten des export- und investitionsgetriebenen Wachstums um jeden Preis sind enorm. Kurzfristig steht China gut da, gerade im Vergleich zu Europa und den USA. Das Regime fürchtet sich jedoch vor wachsenden sozioökonomischen und politischen Instabilitäten, schürt den Nationalismus und verschärft weiter massiv Repression und Unterdrückung. Das chinesische Modell wird bereits von «starken Männern» weltweit kopiert.

Welt im Aufbruch: Wo Gefahr ist, wächst das Rettende

Krisen und Unterdrückung der Freiheit erzeugen immer auch Gegenbewegungen. Der ökologische Umbau hat begonnen. Und der Druck sozialer Bewegungen wie Fridays for Future treiben Werte- und politischen Wandel an. Die Klimakrise hat längst auch die Aktienmärkte erreicht: Tesla wird zum Börsenliebling – und die noch vor zehn Jahren wertvollste Firma der Welt, der Ölkonzern Exxon Mobil, stürzt an den Börsen ab und flog aus dem Dow-Jones-Index.

Demokratische Bewegungen – von Belarus bis Hongkong – fordern weltweit die Regierungen heraus. In Chile erstreitet die Protestbewegung gegen eine rechtslastige Regierung eine neue verfassungsgebende Versammlung. In Argentinien erkämpfte die Frauenbewegung nach jahrelangen politischen Auseinandersetzungen das Recht auf Abtreibung. Der Sudan bricht zu neuen demokratischen Ufern auf. Zivilgesellschaften überall kämpfen für Freiheit, für Demokratie und Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit.

In den USA hat die Mobilisierung der «Black Lives Matter»-Bewegung das Bewusstsein für den strukturellen Rassismus der US-Gesellschaft und auch anderswo gestärkt. Schwarze Wähler*innen, insbesondere Frauen, haben durch eine enorme Mobilisierung Präsident Biden nicht nur den Wahlsieg, sondern auch in der Nachwahl in Georgia eine knappe Mehrheit im Kongress gesichert. Mit US-Vizepräsidentin Kamala Harris hat die erste «Woman of Color» diese Position inne und damit Chancen, eines Tages das Präsidentenamt zu bekleiden.

Nagelprobe für den Klimaschutz

2020/21 ist die Nagelprobe für den Pariser Klimavertrag. Die im Vertrag von 2015 eingebaute «Emissions­lücke» (nationale Selbstverpflichtungen, die bisher bei Weitem nicht ausreichten, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen) wird nun allmählich geschlossen: Die EU verschärft die Vorgabe für ihre Emissionsminderung auf minus 55 Prozent gegenüber 1990; Japan und Südkorea wollen bis 2050, China bis 2060 Netto-Null-Emissionen anstreben. Auch Präsident Biden hat dieses Ziel auf seine Agenda gesetzt. Wenn sie ernsthaft umgesetzt werden, sind das Hoffnungszeichen – auch wenn das noch nicht für die 1,5°C reicht und viele Fragen, mit welchen Instrumenten und Technologien das umgesetzt werden soll, noch offen sind.

Wendejahre

Letztlich stehen fast alle Staaten der Erde vor der enormen Herausforderung, in historisch ­kürzester Zeit ihr Wohlstands- und Entwicklungsmodell neu zu erfinden. Die Klimakrise verlangt von allen, wenn auch in unterschiedlichen Dimensionen, ­einen enormen Um- und Aufbruch in nie dagewesenen ­Ausmaßen.

Es geht darum, endlich «vor» die Krisen zu kommen, statt ihnen hinterherzurennen. Es geht um eine vorausschauende, vorbeugende Politik, die unseren ökologischen Fußabdruck so rasch wie möglich reduziert, die eskalierende Ungleichheit bekämpft und die Finanzmärkte bändigt. All dies wird ohne Zumutungen und eine ehrliche Kommunikation zwischen Bürger*innen und Politik nicht gelingen.

Deutschland hat die Chance und die Pflicht, als größtes Land eines immer noch global relevanten Euro­pas, in dieser Transformation eine treibende ­Rolle zu spielen, zuhause und in seinen weltweit wirksamen Politiken im bilateralen und ­multilateralen Rahmen. Ob das gelingen wird, hängt nicht nur, aber auch vom Superwahljahr 2021 und den hoffentlich neuen Machtverhältnissen zugunsten der sozialökologischen Transformation ab. «Weiter so» muss abgewählt und die Bürger*innen für eine Politik realis­tischer Radika­lität gewonnen werden.


Barbara Unmüßig ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

Jörg Haas ist Referent für Internationale Politik in der Heinrich-Böll-Stiftung.

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